aus: MIR WURDE MUT GEMACHT. Geboren 1916 erinnere ich mich. Literarischer Monolog der ehemaligen Innsbrucker Gemeinderätin Maria Kaiser(1916 - 2011) (Literarisierung:ima plotz kulturspur verlag innsbruck 2011) ...ahnungslos was Armut in der Stadt betrifft, lerne ich diese bald über das Leben einer Mitschülerin kennen: Fünf Kinder, ein Zimmer, Küche, Kabinett in der Jahnstraße, ein kleines Fenster im obersten Wandrand. Blickt man zum Tageslicht, sieht man lediglich Beine vorüber sausen. Chaotische Armut beherrscht den Alltag Hildegards, meiner besten Schulfreundin. Die Mutter liest Dreigroschenromane oder strickt. Die Verwahrlosung des Zimmers - es scheint vom Sonnenlicht nicht einmal einen Punkt zu ergattern - und die Ruhe der Lesenden, die hinter den Groschenheften offensichtlich täglich in eine andere Welt versinkt und so dem Elend entrinnt, lösen eine Faszination bei mir aus und ich starre gebannt in den Raum, gereizt von der Neugier, wenigstens eine fröhliche Lebensseite dieser Familie zu entdecken ... Hildegard ist sehr hübsch, ruhig, zurückhaltend, unsicher, ganz anders als ich, die burschikos und vorlaut mit der Welt umgeht. Sie ist oft krank. Nach längerer Abwesenheit wird Hildegard in der Schule zu einer Prüfung aufgerufen und weiß nichts, weil sie noch rekonvaleszent ist. Ich steh' auf und weise den Lehrer darauf hin: Hildegard ist ja schließlich krank gewesen! Der Lehrer und die Klasse starren mich an: es ist eine Portion Frechheit nötig, einem Lehrer zu widersprechen. Wie ich am Ende der 4. Klasse das Vorzugszeugnis überreicht bekomme, heißt es, dass ich dieses Zeugnis wegen meines schlechten Benehmens nicht verdient habe. Leistung und Benehmen sollen nicht durcheinander gewürfelt werden, lautet meine Antwort. Ich mache mich bei den Lehrern nicht beliebt. Doch Hildegard und ich sind treue Freundinnen, meine Mutter richtet uns Butterbrote zur Jause, und wir schwärmen vom guten Geschmack des Rosenbrotes der ETAB-Bäckerei. |